Sei mutig | Wünsche für euch im Dezember 2020

Sei mutig

Mein Wunsch für euch zu den Feiertagen und für den Schritt nach 2021 ist, dass ihr mutig sein könnt, zu euch zu stehen und euch nicht zu verstecken.

In den letzten Jahren war ich immer wieder darüber entsetzt, dass Formulierungen wie „Emo“ (von emotional), „heul doch“, „mimimi“ und nicht zuletzt „Schneeflocke“ die alte Reihe ähnlicher Begriffe – für die ich stellvertretend mal die „Mimose“ nennen möchte – fortgesetzt haben: Emotion zu haben, nicht aus Stein zu sein, nicht alles auszuhalten, ist wieder vermehrt zu etwas geworden, für das und womit man beschimpft wird.

In unserer Kultur ist das wenig erstaunlich. Ist hier doch das Funktionieren ihr höchstes Gut. Hat sie es doch zum Ideal erhoben, dass sich der zuarbeitende Teil der Bevölkerung nicht zu schade sein darf, auch die schlimmste Arbeitsbedingung zu akzeptieren. Inklusive derjenigen, sich selbst auszubeuten. Ist diese Kultur doch nicht zuletzt – wie der Kapitalismus, dem sie sich unterworfen hat – eine Frucht toxischer Männlichkeit.

Am stärksten zu sein, heißt nicht mutig zu sein

Die Toxizität dieser Kultur hat mich erzogen: Sie hat mir, indem sie mir Selbstbewusstsein und dem Selbstwertgefühl genommen hat, meine Beine genommen. Sie hat mir mit Leistungsdenken und Selbstbeherrschung stattdessen zwei Krücken gegeben.

Seht mal, es ist so: Wenn du kein Selbstwertgefühl hast, empfindest du dich selbst als wertlos und kannst Daseinsberechtigung nur aus fremdzugeschriebenem Wert beziehen. Wenn du kein Selbstbewusstsein hast – dir also jedes Bewusstsein für dich selbst und dein Wohl- oder Unwohlsein und deine Bedürfnisse genommen wurde –, kannst du dich nicht mehr schützen.

Wenn du andererseits zum Leistungsdenken indoktriniert wurdest, glaubst du, dass du durch Leistung die Möglichkeit bekommst, dir doch aus eigener Stärke einen Wert und Daseinsberechtigung zu verdienen. Das ist natürlich ein Trugschluss, denn dieser Wert ist in derselben Weise fremdzugeschrieben und kann nie ein Selbstwertgefühl erschaffen – oder ersetzen. Wenn du dem Ideal der Selbstbeherrschung folgst und nur stark genug dafür bist, erstickst du das letzte Menschliche in dir.

2020, das Jahr der befreienden Niederlage

Menschlich zu sein, heißt, alle Aspekte des Menschlichen zu akzeptieren – nicht nur diejenigen Seiten, welche den Gesetzen des Kapitalismus und der toxischen Männlichkeit entsprechen. Meine beiden anerzogenen Krücken Selbstbeherrschung und Leistungsdenken haben mich glauben lassen, dass ich, solange ich nur stark genug bin, dass alle meine wertlosen Gefühl und Bedürfnisse daran zerschellen, endlich etwas wert sein könnte.

Die Erkenntnis, dass diese beiden nur Krücken für fehlendes Selbstwertgefühl sind und wahres Selbstbewusstsein sie unmöglich machen würde, hatte ich schon Anfang 2018. Nur hatte ich keinen Mut, um die Konsequenz zu ziehen. Stattdessen hatte ich noch Kraft.

Mein Wunsch für euch vor zwölf Monaten: „Freude & Mut“

Mitte 2019 bin ich zu Boden gegangen (leider wörtlich durch die Faust fleischgewordener toxischer Männlichkeit). Ich war angezählt. Ich wollte es nicht wahr haben. Ich hätte nun die Konsequenzen ziehen können. Stattdessen habe ich verhandelt:

Noch dieses Schuljahr. Noch dieses Schulhalbjahr. Wenigstens noch den Januar 2020. Wenigstens den.

Ich hatte keinen Mut. Nicht den Mut, verletzlich zu sein. Und nicht den Mut, zu mir selbst zu stehen. An dem Glauben, dass mein Wert davon abhängt, dass ich keinerlei Schwäche zeige, sondern mit meiner Selbstbeherrschung jedes menschliche Bedürfnis unterdrücke, habe ich sogar noch festgehalten, als es mir unter keine Umständen mehr möglich war, wieder aufzustehen und auch nur noch einen einzigen Tag weiterzumachen. Für mich war es eine Niederlage.

Sei mutig wie die Schneeflocke

Mein Wunsch für euch zu den Feiertagen vor einem Jahr und für 2020 war „Freude & Mut“ – zwei Dinge die ich nicht hatte und nicht verstand. Definitiv war das auch nicht die einzige Situation, in der ich Wein gepredigt, aber Wasser getrunken habe. Im Grunde mache ich das immer noch. Genau hier, in diesem Text. Oder, um es mit Selbstachtung auszudrücken: Dieser Text soll für mich wie für euch eine Erinnerung sein! (Ich habe sie dringend nötig; diese Sitemap beweist, wie wenig lernfähig ich bin.)

Mein Wunsch für euch ist:

Sei mutig, wie die Schneeflocke, einzigartig & verletzlich.

Die Schneeflocke ist auch ein Schimpfwort, dass die Generation der Baby Boomer jüngst geprägt hat. Es stammt also von denjenigen die uns – oder wenigstens mich und eure Eltern – in der oben beschriebenen Weise erzieherisch verkrüppelt haben. Sie verwenden es gegen diejenigen, die noch genug ihrer Menschlichkeit bewahrt haben, um zu „schmelzen“, wenn ihr Wohlsein in Unwohlsein kippt oder ihre Bedürfnisse nicht befriedigt werden.

Jemanden für seine Menschlichkeit zu beschimpfen, ist eine ganz neue Dimension der Unmenschlichkeit.

Sei mutig und ziehe Konsequenzen

Nichts erfordert uns selbst gegenüber mehr Mut, als die eigenen Schwächen und die eigenen Grenzen zu akzeptieren. Aber jeder Mensch ist einzigartig – trotz und wegen seiner Schwächen. Und er darf so sein. Seine eigenen Schwächen anzunehmen, gehört zum Selbstbewusstsein und widerspricht mitnichten dem Selbstwertgefühl. Ganz im Gegenteil.

Nichts erfordert anderen gegenüber mehr Mut, als die eigenen Schwächen zu vertreten und die eigenen Grenzen zu wahren. Ja, lernt dazu, wählt euch herausfordernde Ziele, trainiert eure Kräfte, aber seid euch eurer Grenzen bewusst. Dinge, die ihr macht, dürfen auch mal – aber eben mal und nicht dauernd – anstrengend sein. Danach ist es um so wichtiger, sich selbst bewusst zu machen, welche Bedürfnisse man erfüllen muss, um wieder wohl zu sein, und die Konsequenzen daraus zu ziehen.

Wenn eine (An-)Forderung an euch zu groß ist, seid so mutig, so sehr ihr selbst zu sein und so verletzlich sein zu dürfen, sie zurückzuweisen. Und wenn man euch dann den Wert abspricht und euch als „Schneeflocke“ beschimpft, sagt:

Ja, ich bin eine Schneeflocke, mutig, einzigartig & verletzlich, denn ich habe selbst Wert.

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