Abenteuer im Sozialstaat – beim Abstieg

Bild einer dampfenden Teetasse vor einem unscharf im Hintergrund befindlichen unordentlichen Bett, das mit seinen weißen Bezügen ein bisschen an Krankenhaus erinnert. Darüber stehen die Worte "Ich bin in Rente." | © 2022 Claus R. Kullak | David Mao / Unsplash | crk-res.de

Mit einer ganzen Menge Einrichtungen des Sozialstaates habe ich in den letzten drei Jahren Erfahrungen gesammelt. Eine kleine Rückschau.

Seit gestern bin ich in voller Erwerbsminderungsrente.

Meine Gefühle dazu? Ich bin traurig. Und ich habe noch mehr Angst als sonst, dass es nie besser wird und dass ich trotzdem wieder was leisten muss.

Ich habe es gestern noch geschafft, den Antrag auf Sozialhilfe zu stellen, damit mir nichts verloren geht. Die Umstellung von Hartz IV, das am Monatsanfang gezahlt wird, auf die Erwerbsminderungsrente, die am Monatsende gezahlt wird, trifft mich eiskalt. Ich bin zahlungsunfähig.*

Ein kleiner Überblick über mein Abenteuer

Seit ich am 31.07.2019 zusammengeschlagen wurde, habe ich viele mir neue Bereiche unseres Staates und insbesondere unseres Sozialstaates getestet:

  • Anzeige bei der Polizei
  • Transport im Rettungswagen
  • Verdacht auf Hirneinblutung (nicht der Fall)
  • Brechreiz im CT
  • EEG bei der Neurologin
  • Kurzfristige Krankschreibung
  • Häufige Krankschreibung
  • Dauerhafte Krankschreibung
  • Krankengeld
  • Gerichtsverfahren, worin ich als geschädigter Zeuge auftrat
  • Antrag auf Entschädigung nach dem OEG (Opferentschädigungsgesetz)
  • Ablehnung des Antrages auf Entschädigung nach dem OEG, weil man als Unschuldiger wegrennen muss, sonst ist man mitschuldig. (Wen soll das Gesetz dann überhaupt entschädigen: Wenn Nicht-Wegrennen schon gegen eine Entschädigung spricht, wie ist es dann erst mit Notwehr?)
  • Aussteuerung des Krankengeldes
  • Aufgabe der privaten Altersversorgung
  • Abrufen der Berufsunfähigkeitsversicherung
  • Antrag auf Grad der Schwerbehinderung (steht noch aus)
  • Antrag auf HartzIV (bewilligt)
  • Antrag auf Erwerbsminderungsrente (bewilligt)
  • Antrag auf Sozialhilfe (steht noch aus, Update 22.12.22: bewilligt)

Ein paar Gedanken zum Sozialstaat und sozialem Abstieg

Ich habe in dieser Zeit nicht nur einen sozialen Abstieg durchs System mit allen Beeinträchtigungen der Lebensqualität und Einschränkungen der Teilhabe, sondern auch eine Menge menschlicher Enttäuschungen erlebt (z. B. Entwürdigung wegen mangelnder Leistungsfähigkeit). 

Am schwersten war es für mich, mit der sich regelmäßig wiederholenden Retraumatisierung zurecht zu kommen: Sei es, weil mir ein Polizist oder weil mir eine Privatperson Gewalt angedroht hat (ersteres nur ein Mal, zweiteres mehrmals), sei es durch die Schuldzuweisung des OEG. 

Ich hätte nie gedacht, auf diese Systeme mal angewiesen zu sein. Zum Teil erlebte ich darin Negatives, das mir vorher schon bekannt war (z. B. dass man von Hartz IV nicht leben kann). Zum Teil erlebte ich Neues (z. B. wie entwürdigend die Kommunikation von Ämtern ist). 

Was mir bleibt, ist eine Menge Zukunftsangst, weil ich mich vom Sozialsystem zwar abgefedert, aber nicht aufgefangen fühle, weil immer die Drohung besteht, doch fallengelassen zu werden (und sei es nur eine Stufe tiefer).

Die wichtigste Erkenntnis ist vielleicht, dass der Umgang mit den Ämtern ein Gefühl der völligen Überforderung und des Ausgeliefertseins (und beim OEG auch der Willkür) hinterlässt, das für Fremdsprachler, Mangelgebildete und Kränkere noch viel größer sein wird.

Danke fürs Lesen!

* Addendum: Florian Bach hat mir den folgenden Tipp für die temporäre Zahlungsunfähigkeit gegeben: „Lass dir beim Sozialamt ein Überbrückungsdahrlehn zum Renteneintritt nach § 37a SGB XII (Darlehen bei am Monatsende fälligen Einkünften) geben. Die sollen auch gleich checken, ob du Grundsicherungsbedarf hast.“

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